Veröffentlicht am 16. Juli 2005 in den Schaumburger Nachrichten

Von Christoph Oppermann

Vorbemerkung: „Hochverehrter Herr! Wie ich anfang soll weiß ich nicht recht – denn von Leuten, die Sie zu kennen vorgeben, sind mir schwere Verhängnisse in Aussicht gestellt, wenn ich Ihnen mein Anliegen unterbreite. Aber schließlich ist es doch kein Verbrechen, wenn man einem Menschen sagt, wie sehr man ihn bewundert und liebt und welch unvergeßliche Stunden man ihm verdankt.“ Leicht scheint es dem Redakteurskollegen vom „Berliner Tageblatt“ nicht gefallen zu sein, Wilhelm Busch um ein paar Zeilen anlässlich dessen 70. Geburtstages zu bitten. Damals konnte sich Busch zur Wehr setzen, hielt Journalisten und Gratulanten auf Distanz, sogar den Kaiser fertigte er buchstäblich im Telegrammstil ab. Scheinbar unzählige Autoren – Kenner und Laien – haben sich an Busch versucht und abgearbeitet. Den einen Schlüssel, der zu allen Hintergedanken, Absichten, Anspielungen Zugang gibt, hat niemand gefunden. So werden die zum Lebensende immer vertrackter und verschlüsselter scheinenden Geschichten ebenso wenig endgültig zu erklären sein wie der phantastische Erfolg, den der Kaufmannssohn aus Wiedensahl gehabt hat. Er bleibt ein Mensch voller Rätsel und Widersprüche – ein Versteckspieler.

Neben den Streichholzschachteln liegt eine Papiertüte in der Vitrine. Auf der Fensterbank darüber stehen ein blechernes Bierfässchen und eine überdimensionierte Bierflasche. Alle zieren Motive aus der Bildergeschichte „Max und Moritz“. Bierdeckel in der nächsten Vitrine, darunter kleine Behälter mit Kaffeesahne. Richtig, auch die versehen mit „Max und Moritz“ en miniature. In einem weiteren Schaukasten reiht sich eine Ausgabe an die nächste – wieder „Max und Moritz“. In Lettisch und Ukrainisch, in schwedischer und isländischer Sprache, auf Finnisch und Esperanto, im Kohlenpott-Slang und Pfälzer Dialekt.

Bis vor kurzer Zeit waren die Ausstellungsstücke im Souterrain des Hauses von Jobst Wöbbeking in Beckedorf zu finden. Wöbbeking ist leidenschaftlicher Sammler: Scheinbar ist jede Sorte bedruckbarer Gegenstände bereits einmal mit einem Motiv von Wilhelm Busch versehen worden, vornehmlich mit Szenen aus der Geschichte von „Max und Moritz“. Einen Teil seiner umfangreichen Kollektion hat Wöbbeking dem Wilhelm-Busch-Geburtshaus in Wiedensahl bereits vermacht. Jetzt packt der pensionierte Lehrer und passionierte Busch-Kenner wieder Kisten – weitere Ausstellungstücke für die Busch-Gedenkstätte in Wiedensahl. Wöbbeking ist nicht nur Sammler, sondern Kenner. Mit der „Bubengeschichte in sieben Streichen“ hat er sich besonders intensiv auseinandergesetzt.

Wilhelm Busch ist Anfang 1865 32 Jahre alt und würde nach heutigen Maßstäben als nicht sonderlich erfolgreich bezeichnet werden. Nach zeitgenössischen Kriterien ebenso wenig. Ein Maschinenbaustudium in Hannover hat er abgebrochen, zwei Versuche, an Kunstakademien Fuß zu fassen, mit sich selbst unzufrieden beendet. In Wolfenbüttel hält er um die Hand der 17 Jahre alten Anna Richter an, doch deren Vater gilt er als Hungerleider. Aus der Hochzeit wird nichts. Außerdem hat er wirtschaftlich wirklich keinen Erfolg.

Von 1858 an hatte Busch mit dem Verleger Caspar Braun zusammengearbeitet. Der zahlte miserabel, und Busch wollte die Verbindung lösen. Er offerierte eine Bildergeschichte dem Dresdener Heinrich Richter, doch auf Intervention seines berühmten Maler-Vaters Ludwig Richter lehnte der junge Verleger ab. Pech gehabt. Denn jetzt übte sich Busch im Kotau vor Braun: „Mein lieber Herr Braun! … Ich schicke Ihnen nun hier die Geschichte von Max und Moritz, die ich zu Nutz und eignem Plaisir auch gar schön in Farben gesetzt habe, mit der Bitte, das Ding recht freundlich in die Hand zu nehmen und hin und wieder ein wenig zu lächeln. Ich habe mir gedacht, es ließe sich als eine Art kleiner Kinder-Epopoe vielleicht für einige Nummern der fliegenden Blätter und mit entsprechender Textveränderung auch für die Bilderbögen verwenden.“, schrieb Busch am 5. Februar 1965 aus Wiedensahl. Braun war cleverer. Er machte ein ganzes Buch daraus, fand Busch mit 1000 Gulden ab – und verdiente selbst eine Menge Geld damit. Über die Gründe mag man spekulieren – zum 70. Geburtstag 1902 überwies der Verlag Busch noch einmal 20 000 Goldmark, doch der war längst nicht mehr darauf angewiesen und leitete die späte Zahlung zu gleichen Teilen an das Clementinenhaus und das Henriettenstift – Krankenhäuser in Hannover – weiter.

Eines bleibt unklar: Wann genau sind die sieben Streiche erschienen? Der WDR hat bereits am 4. April den „Stichtag 140 Jahre Max und Moritz“ gemeldet. In seinem Buch „Der Versteckspieler – Die Lebensgeschichte des Wilhelm Busch“ nennt Herbert Günther hingegen den Juli 1865 als Veröffentlichungstermin. Belege scheint es nicht zu geben, bestenfalls Indizien, denn die Unterlagen des Verlages Braun & Schneider sind, so Busch-Kenner Wöbbeking, am 7. Januar 1945 bei einem Bombenangriff auf München zerstört worden. Wahrscheinlicher als der April-Termin ist die Auslieferung zu einem späteren Zeitpunkt. Knapp 100 Zeichnungen umfasst die Sieben-Streiche-Geschichte, die er seitenverkehrt auf Holzstücke zeichnen musste. Buschs spätere Aussagen über die Produktionszeit anderer Arbeiten lassen den Schluss zu, dass die Bilder von „Max und Moritz“ kaum in zwei Monaten entstanden sein können, zumal Druck und Buchbinderarbeiten nicht berücksichtigt sind.

Klar ist indes zweierlei: Die Geschichte der beiden Rotzlöffel ist kein reines Produkt des „Lustwandelns in den Laubengängen des intimeren Gehirns“. Außerdem ist die „Bubengeschichte“ nicht nur eines der bekanntesten Bücher der Welt, sondern war stilbildend.

„Hier war er frei. Hier tollte Heinrich, Christian Wilhelm Busch, geboren am 15. April 1832 zu Wiedensahl im Königreich Hannover, als Kind mit den anderen aus dem Dorf herum, den Hütejungen, den Bauernmädels. … Hierher kehrte er auch immer wieder, als das Leben ihm den einen oder anderen Streich gespielt hatte, als er ein skeptischer, illusionsloser, bisweilen sarkastischer und dennoch am Ende heiter-amüsierter Beobachter des menschlichen Treibens geworden war“, schreibt der aus Hannover stammende Autor und Journalist Martin Tschechne in seinem Buch „Auf den Spuren von Wilhelm Busch“. Nur: Vor der Rückkehr steht der Weggang, im Falle Buschs sogar besonders früh. Das Elternhaus in Wiedensahl wurde zu eng, als Wilhelm neun Jahre alt war. Seine Eltern schickten ihn zum Onkel Georg Kleine, der Pastor in Ebergötzen war. So bitter die Trennung von Eltern und Geschwistern gewesen sein mag, im Nachhinein war der Umzug ein Glücksfall. Dem klassischen Bild eines norddeutschen Pfarrers lutherischer Prägung kann Kleine kaum entsprochen haben. Weltoffen, tolerant, neu- und wissbegierig – so ist er und dazu hält er seinen Neffen an. Und unterstützt diesen bei den ersten Zeichenversuchen, die außergewöhnliches Talent offenbaren. „Warum eigentlich hat noch niemand diesem Georg Kleine ein Denkmal gesetzt? Eine Schule nach ihm benannt? Weil er nur praktisch bewiesen hat, was viel später erst theoretisch ausformuliert wurde? Dass Genie nämlich Anregung braucht, entfaltet werden muss“, schreibt Tschechne in seinem kürzlich erschienen Busch-Band. Und nicht nur Wilhelm Busch kommt in den Genuss privater Unterrichtsstunden, die so gar nichts mit dem Prügel-Frontal-Unterricht zu tun haben, der zu der Zeit üblich war. Gleich bei seiner Ankunft begegnet er dem Sohn des Mühlenbesitzers, und er freundet sich mit Erich Bachmann an. Max und Moritz haben sich in Ebergötzen getroffen.

Völlig ungetrübt indes sind auch die Jahre im Pastorenhaushalt des Onkels nicht gewesen. Erfahrungen mit dem Tod gehörten dazu, und auch eine „Jagdreise“, die Busch von seinem Onkel bekommen hat. Eine wohlbemerkt, und die auch eher symbolisch als körperlich schmerzhaft. Vielleicht ist sie ihm deshalb so gut in Erinnerung geblieben. Prägend indes waren andere Erfahrungen: Das gemeinsame Lernen mit dem Freund Erich Bachmann, der Unterricht des Onkels und der Zugang zu neuen Dimensionen im Denken. Dazu die Erlebnisse mit Freund Erich beim Spielen, die zumindest teilweise Eingang in die Geschichten von Max und Moritz gefunden haben. Einige Prägungen bleiben erhalten und sichtbar. Die Freundschaft zu Bachmann hält ein Leben lang. Bachmann ist am 12. August 1907 gestorben, Busch am 9. Januar 1908. Der Kontakt ist nicht nur nicht abgerissen. Beide haben Anteil am Leben des anderen genommen, Belege dafür gibt es reichlich. Zeitlebens bleibt Busch einer bemerkenswerten Lebensform zugewandt. Obwohl Zweifler, Skeptiker und mit einem gelegentlich problematischem Verhältnis zur Kirche behaftet, lebt er fast ausschließlich in Pastorenhaushalten, die meistens kleine niedersächsische Häuser sind. Ausflüge in „die große, weite Welt“ enden häufig mit Enttäuschung, manchmal sogar im Eklat. Fluchtpunkte bleiben immer die kleinen norddeutschen Pfarrhäuser, in denen seine Familie lebt, und mehr als sechs Jahrzehnte eben Wiedensahl. „Hier sind die allermeisten seiner Geschichten entstanden“, hat Gerhard Dreyer, Vorsitzender des Förderkreises Wilhelm Busch Wiedensahl vor wenigen Tagen bei einer Feierstunden erwähnt – zu Recht. Haben sich Max (Erich Bachmann) und Moritz (Wilhelm Busch) auch in Ebergötzen kennengelernt – Gestalt haben die beiden Figuren in der Abgeschiedenheit Wiedensahls bekommen. Dorthin war Busch nach erfolglosen Aufenthalten in Hannover, Düsseldorf und München zurückgekehrt. Vielleicht waren die eigenen Ansprüche zu hoch – als Kunstmaler hat er sich selbst nicht genügt. Enttäuscht wieder in Wiedensahl angekommen, kultivierte er die Bildergeschichte als Darstellungsform mit den sieben Streichen als letztlich großartigem Erfolg. Den „Nebenwegen“ der Kunst ist er treu geblieben, ziemlich zumindest. Ausflüge hat er immer wieder unternommen in die „ernsthafte Malerei“, in die Dichtung, aber der Maßstab – das war „Max und Moritz“. Keine seiner Arbeiten war wirtschaftlich hinterher solch ein Erfolg – in diesem Fall leider nicht für den Urheber, der war ja mit 1000 Gulden abgefunden. Die Darstellung zweier Jungen voller Streiche und Bosheit hat den Künstler aus Wiedensahl weltberühmt gemacht.

Jobst Wöbbeking hat recherchiert. In mehr als 120 deutsche Dialekte und plattdeutsche Sprachformen sind demzufolge die sieben Streiche, die böse, böse für die beiden Jungen enden, übersetzt worden, außerdem in 200 Fremdsprachen und Dialekte. Damit sei „Max und Moritz“ das Kinderbuch mit der weltweit größten Verbreitung. Teilweise skurril Anmutendes ist das Resultat dieser Verbreitung. Die Streiche und Straftaten sind juristisch gewürdigt worden, Mediziner haben sich der Geschichte angenommen, Psychologen die beiden Rüpel analysiert. Auch die studentenbewegte 68er-Generation, die vor nichts zurückschreckte, nicht einmal vor der Regierungsübernahme in Berlin, hat die Geschichte aus Wiedensahl adaptiert und – folgerichtig – in „Marx und Maoritz“ umbenannt. Aber auch für handfestere Behandlung musste die Geschichte herhalten. Vor allem gastronomische Betriebe haben die dauernde Behandlung Buschs kulinarischer Genüsse und menschlicher Schwächen aufgegriffen und die Ergüsse Busch’scher Zeichenkunst zu Werbefiguren umgearbeitet. Außerdem haben sich Versicherungen der Figuren bedient und Autohäuser, Brauereien und Spielehersteller. Sogar die hannoversche Üstra hat mit dem Begriff „Omnibusch“ geworben, und auch „TottoLotto“ hat sich beim „Weisen aus Wiedensahl“ bedient. Gibt es eigentlich Werbefiguren, die weiter verbreitet sind?

Stilbildend mit Wirkung bis in die Gegenwart ist Buschs „Max und Moritz“-Geschichte allemal gewesen. Nicht nur, dass er den Comic strip erfunden hat – in New York sind schnell die „Katzenjammer Kids“ erschienen, eine klare Adaption der niedersächsischen Geschichte. Auch bis heute gebräuchliche Lautmalereien haben mit dem Buch weite Verbreitung erfahren: „Max und Moritz, gar nicht träge, / Sägen heimlich mit der Säge, / Ritzeratze! voller Tücke / In die Brücke eine Lücke.“ „Doch die Käfer, kritze, kratze! / Kommen schnell aus der Matratze.“ Ziemlich viel Wirkung für 1000 Gulden.

Was aber hat den Erfolg gerade dieser Geschichte ausgemacht? Perfekte Reime sind es nicht, manches kommt holperig daher, zur Meisterschaft hat er diese literarische Form erst in späteren Werken gebracht. Auch die Bilder waren später häufig noch pointierter. Vielleicht, weil er sich nicht klüger gab, als er es seinen Lesern zubilligte. Busch-Kenner Wöbbeking beschreibt das so: „Busch zeigt Max und Moritz als Inkarnation eines triebhaften Lebenswillens, der in Schopenhauers Philosophie eine große Rolle spielt. Nach Buschs Meinung leben Kinder nun einmal ihre Vitalität noch ungezügelt und spontan aus. Wilhelm Busch, und daran besteht kein Zweifel, hat in seiner Geschichte, die allzu sichere, aber im Inneren morsche und verspießte Gesellschaft der Kleinbürger auf ironische Weise aufgedeckt und kritisiert.“ Beispiel gefällig? „Fließet aus dem Aug’, ihr Tränen! / All mein Hoffen, all meinen Sehnen. / Meines Lebens schönster Traum / Hängt an diesem Apfelbaum!“ Hier betrauert niemand den Tod nahester Verwandter, die Witwe Bolte beklagt den Verlust ihres Federviehs.

Es gibt keine Formel, die das Phänomen Busch erklärt. Er bietet für viele etwas, ohne beliebig zu sein. Vor allem Anreiz, sich wieder einmal mit dem wohl bekanntesten Kinderbuch der Welt zu beschäftigen. 140 Jahre sind für ein zeitloses Thema kein Alter.